10-10-10-Klassik Heute Empfehlung
"Es hat sich eingebürgert, dass Musiker ihre jeweils jüngsten Einspielungen als „Momentaufnahme“ bezeichnen. So geht Thomas Albertus Irnberger nicht vor. Wenn es einen Zug gibt, der die thematisch weitgespannte, um die 50 CDs umfassende Diskographie des österreichischen Geigers vereinigt, dann den, dass er jeweils gültige Interpretationen vorlegt. Natürlich können sich diese noch verändern, aber Irnberger geht mit einem Werk erst ins Studio, wenn er es nach langer intensiver Beschäftigung vollends durchdrungen und begriffen hat – gleichsam zu Ende gedacht.
So konnte man für das neue Album, das der Violinmusik von Igor Strawinskij gewidmet ist, einiges erwarten. Dass Irnberger und seine Partner aber die Balance zwischen zwingender Logik von Phrasierung und Form und geradezu aufregender artikulatorischer Freiheit so präzise halten würden, frappiert dann doch. Über fast 80 Minuten kann man das Ohr nicht von diesem unendlich reichen Geigenspiel abwenden. Allein das mikroskopische Leben, das der Ton an seiner Oberfläche ausbildet! Im Violinkonzert D-Dur etwa ist jede Passage mit bildhaft anschaulicher Gestik ausgedrückt: Motivische Bewegungen wischen übermütig in die Höhe oder werden selbst in der in diesem Werk ausgeprägten tiefen Lage zum Tanzen gebracht. Typisches Geigenfutter imitiert Irnberger mit der Grandezza eines Schauspielers, der sich ein Kostüm überwirft. Hellhörig reagiert er auf Gedanken, die das Orchester einwirft. Die Fanfaren, die Strawinskij seinem Solisten zumutet, kann Irnberger stählern schmettern wie zwei Trompeten. Und in der Coda der Aria II kommen die Soloflöten und die Violine auch atmosphärisch dem hier in die Moderne transponierten Ideal des Bach´schen Kontrapunkts so nahe wie kaum ein Interpret der Aufführungsgeschichte.
Technisch spielt Thomas Albertus Irnberger ohnehin auf einem Niveau, das nicht mehr steigerbar scheint. Eindrucksvoll sind etwa die unbändige Kraft, die er für Mehrfachgriffe zur Verfügung hat, die höchst reflektierte Bogenführung und eine phänomenale Intonation, bei der man wirklich genau hinhören kann. Doch die Technik ist nie Selbstzweck, sondern wird eingesetzt, um Gestalten in dreidimensionaler Plastizität zu formen, um in allen Lagen straff geführt und dennoch atmend auszusingen und, nicht nur in den beiden ariosen Sätzen, eine unsentimentale, aufrichtige und anrührende Empfindsamkeit auszudrücken. Kurz gesagt: Irnberger zeigt absolute Kontrolle über alle Aspekte des Geigenspiels, aber auch den geistigen und emotionalen Gehalt der Komposition.
Ein Orchester könnte er notfalls auch im Alleingang mitziehen. Doch das ORF Radio-Symphonieorchester erweist sich als ebenbürtig, weil die Musiker unter Doron Salomon viele eigenständige Impulse beisteuern und sich somit ein echter Dialog ergibt. Salomon bildet mit dem hervorragenden Orchester auch einen Klangsinn aus, der in der Strawinskij-Interpretation nicht selbstverständlich ist: mit mal seidigen, mal kompakten Streichern, phantasievollen Bläsersoli und einem aus sich heraus strahlenden, immer transparenten Tutti.
Ähnlich ausführlich müsste man die übrigen Werke dieses Albums würdigen, das gewichtige und vielgesichtige Duo Concertant sowie die Suite italienne, in welcher das stilistische Spiel zwischen Barock und Moderne delikat in der Schwebe gehalten wird; in diesen Werken verträgt sich das so distinkte wie klangschöne Spiel des Pianisten Pavel Kaspar perfekt mit Irnbergers Violinton. Und dann ist da ja noch die kaum bekannte Konzertfantasie von Strawinskijs Lehrer Rimskij-Korsakow, für die Irnberger und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Doron Salomon ein glühendes Plädoyer halten. Doch anstatt eine mehrseitige Rezension zu lesen, sei dem Interessenten lieber empfohlen, dieses Album genau und mehrmals anzuhören. Denn es ist schon jetzt eines der wichtigsten Alben des noch jungen Jahres – und nicht zuletzt unendlich viel mehr als eine bloße „Momentaufnahme“. Empfehlung!
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