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  • Holger Sambale, Klassik Heute

"Eine sehr runde und empfehlenswerte Aufnahme."

"Mitten in der Arbeit an seiner Sechsten Sinfonie, nämlich zwischen der Fertigstellung der Skizzen und ihrer Orchestrierung, komponierte Pjotr Tschaikowski im Frühjahr 1893 in einem wahren Schaffensrausch einen Zyklus von 18 Klavierstücken, die offenbar im Wesentlichen binnen 15 Tagen niedergeschrieben wurden (und das bei einer Gesamtspieldauer von über einer Stunde!). Wenig später als sein Opus 72 veröffentlicht, haben diese Stücke allerdings nie die Popularität manch anderer seiner Werke (auch für Klavier) erreicht. Der junge Pianist Nuron Mukumi, aus Usbekistan stammend und heute in Hamburg lebend, hat sich auf seinem zweiten Album dem kompletten Zyklus gewidmet.


Die 18 Stücke bieten ein buntes Kaleidoskop von Stimmungen in einem eher intimen, tagebuchartigen Rahmen. Oft fühlt man sich an Tschaikowskis Ballettmusiken erinnert, aber ebenso sehr zeigen die Stücke Tschaikowski auch einmal mehr als jemanden, der sich intensiv mit der Musik seiner Komponistenkollegen auseinandersetzt – man denke nur an die Rokoko-Variationen oder die Mozartiana. Im Falle dieser Stücke ist es in erster Linie die Klaviermusik des 19. Jahrhunderts, auf die Tschaikowski Bezug nimmt. Neben expliziten Referenzen bereits im Titel (Schumann und Chopin werden genannt) fallen noch zahlreiche weitere Parallelen und kleinere Hommagen auf; die Anklänge an Liszts As-Dur-Liebestraum in Nr. 14 etwa sind kaum zu überhören, anderenorts kann man an Mendelssohn, Schubert oder auch Grieg denken. Nur gelegentlich wird dieser Rahmen verlassen, orchestraler wirkt z.B. Nr. 10 (Scherzo-fantaisie), das nicht umsonst von Semjon Bogatyrjow als 3. Satz in seiner Orchestrierung von Tschaikowskis unvollendeter (vor der Sechsten entworfener!) Es-Dur-Sinfonie verwendet wurde (und womöglich auch ursprünglich Teil dieser Skizzen war). All dies geschieht natürlich stets im Rahmen von Tschaikowskis ganz eigener, unverwechselbarer Tonsprache mit ihrem charakteristischen melodischen Schmelz.


Mukumis Lesart dieser Stücke betont besonders ihren zurückgenommenen, introspektiven Charakter. Selbst dort, wo Tschaikowski Fortissimo vorschreibt, bleibt Mukumi tendenziell zurückhaltend, begreift Steigerungen in der Dynamik eher relativ oder deutet Höhepunkte eher an als sie klangmächtig zu realisieren. Auch in der Tempowahl forciert er nicht und bleibt teilweise sogar eher hinter Tschaikowskis Metronomzahlen zurück (Nr. 4). Sein Spiel zeichnet sich durch ein apartes, stets grundsätzlich präsentes, aber nie überdosiertes Rubato aus, oft im Sinne eines kurzen Zögerns, Innehaltens, wie gleich in Nr. 1 sehr schön zu beobachten ist. Dieser Ansatz funktioniert in den allermeisten Stücken sehr gut, es sind vor allen Dingen die explizit brillanteren Nr. 7 (Polacca di concert) und Nr. 18 (Invitation au trépak), die etwas mehr Zug vertragen könnten; der halsbrecherische Schluss der Polacca wirkt z.B. eine Spur zu gebändigt. Sehr schön arbeitet Mukumi dagegen die zarten, harfenartigen Echoeffekte in Nr. 2 (Berceuse) heraus, ähnlich auch die differenziert vorgetragenen quasi campanelli-Passagen in Nr. 13 (Echo rustique) oder das vorsichtig-zarte Zögern in Nr. 9 (Un poco di Schumann). (...)


Mit Pletnevs Liveaufnahme dieser Stücke aus dem Jahre 2004 verbindet Mukumi die grundsätzlich intime, elegante Auffassung des Zyklus, wobei sich Pletnev erheblich mehr Freiheiten herausnimmt (etwa in der Tempogestaltung oder in der Suche nach und Betonung von Nebenstimmen), die allerdings stets dem Zweck dienen, die Charakteristik der einzelnen Stücke klar herauszuarbeiten. Mukumis Ansatz ist ein ganzes Stück objektiver, enger am Notentext orientiert, der Schwerpunkt liegt hier besonders auf einem klaren, schlackenlosen, verinnerlichten Vortrag. Eine sehr runde und empfehlenswerte Aufnahme. Klang und Begleittext der CD sind tadellos."






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