Interview mit dem Dirigenten Fabian Enders
- Orchestergraben
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Aktualisiert: vor 18 Stunden
Ein Beitrag von Beatrice Ballin
Es gibt sie noch, die unentdeckten Schätze der Musikwelt. Einer wurde jetzt von dem Dirigenten Fabian Enders zusammen mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien „gehoben“: die Symphonie Nr. 1 von Günter Raphael. Beatrice Ballin befragte ihn zu seiner Welt-Erstaufnahme.
Fabian Enders, Glückwunsch zu einer Premiere! Gerade ist Ihre Welterstaufnahme der Symphonie Nr. 1 von Günter Raphael erschienen. Günther Raphael (1903 – 1960) war ein sehr produktiver Komponist, ist aber dennoch im Vergleich zu seinen Zeitgenossen wie z. B. Paul Hindemith und Carl Orff in den Konzertsälen und auf dem CD-Markt unterrepräsentiert und auch als Künstler kaum bekannt. Was sollte man über ihn wissen?
Günter Raphael blickt zu Beginn seines Schaffens voller Ideen und Zweifel in die Zukunft und wissbegierig auf die Vergangenheit zwischen Schütz und Sibelius. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg komponiert der junge Raphael wie einer, der um ein zusammengestürztes Schloss wandelt, in dessen Trümmern sich viele Schätze finden. Er entdeckt und birgt sie, ohne von ihnen sein Glück zu erhoffen.
Was in die Musik am Ende des vorigen Zeitalters hineindämmert und an Mahler und dem frühen Strauss so aufregend ist, war nach Kriegsende Wirklichkeit geworden. Wie sich die Gesellschaft neu zu gestalten versuchte, so auch die Kunst: Raphaels Musik der Zwanziger Jahre bezieht sich auf die Symphonik der vorigen Jahrzehnte, baut aber nicht auf, sondern eher ab: Da funkelt spätromantischer Reichtum, da heben scheinbar epische Phrasen an, die überraschend dekonstruiert und konfrontiert werden mit modalen und unvermittelt modernen Elementen.
Zu seinen Werken zählen u.a. fünf große Sinfonien, Konzerte, Kammermusik, Klavier-, Orgel- und Vokalwerke. Aus welchem Grund haben Sie sich dazu entschieden, die Symphonie Nr. 1 in a-moll aufzunehmen?
Als junger Komponist fand Raphael prominente Förderer wie Wilhelm Furtwängler oder Karl Straube. In der Zeit des Nationalsozialismus, in der Raphael, seiner jüdischen Vorfahren wegen, zeitweise mit einem Berufsverbot belegt war, setzten sich Eugen Jochum und Rudolf Mauersberger für seine Musik ein. Später widmeten die Berliner Philharmoniker unter Sergiu Celibidache seiner 4. Symphonie eine Aufnahme. Mich haben die Anfänge des Komponisten in der oftmals totgesagten Gattung um 1925 interessiert: Die 1. Symphonie wurde nie zuvor eingespielt. Es war – fast hundert Jahre nach der Uraufführung unter Wilhelm Furtwängler – eine Wiederentdeckung. Welche hergekommene oder künftige Tonsprache klingt an? Setzt er fort? Beginnt er neu? Zeichnen sich Entwicklungslinien ab? Kündigt sich sein späterer, herber Stil hier bereits an? All diese spannenden Fragen können wir nun an ein breites Publikum weitergeben.
Was zeichnet den Kompositionsstil von Günter Raphael aus? Wodurch wurde er beeinflusst?
Raphael und Paul Hindemith waren Schüler Arnold Mendelssohns, der nicht nur eine kompositorische Größe war, sondern beispielsweise in 1880er Jahren die Schütz-Passionen herausgab. Raphael war ein Kenner und Verehrer der Musik von Bach und Schütz. Er bewunderte den berühmtesten Schüler seines Großvaters (des Komponisten) Albert Becker: Über die 4. Sinfonie dieses Jean Sibelius schrieb Raphael: „Es ist mit das eigenartigste, was es auf dem Gebiet der reinen Symphonik gibt“. Der frühe Raphael ist ein unternehmungslustiger, vielleicht ein gebrochener, vielleicht ein entlaufener Spätromantiker, der aus dem Wechselspiel hypertropher Chromatik und asketischer Modalität krasse Gegensätze schafft und eine neue Tonsprache entwickelt.
Raphaels Sinfonie Nr. 1 ist nicht die erste Weltersteinspielung, mit der Ihr Name in Verbindung steht. 2018 haben Sie in der Thomaskirche Gustav Schrecks Oratorium „Christus der Auferstandene“ dirigiert. Von dem Live-Mitschnitt wurde eine CD produziert, die 2019 für den „Opus Klassik“ nominiert wurde. Bieten selten gespielte Werke, wie die von Schreck und Raphael, einem Dirigenten mehr interpretatorischen Spielraum als bekannte?
Man sollte meinen, die durch hunderte Aufnahmen im öffentlichen Bewusstsein verankerten Werke hätten sich durch eine Vielfalt der Lesarten bewährt und müssten als intakte Bestandteile des Kulturlebens das interpretatorische Experiment nicht fürchten – müssen die Werke auch nicht, aber wir tun es all zu oft. Mit Walter Jens finde ich, dass eine rein immanente, rein soziologische oder rein psychologische Interpretation jeweils zu viele Aspekte eines Werkes unbeachtet lässt und zudem, dass uns heute der Wert einer immanenten Betrachtung fast vollkommen abhandengekommen ist: Dass Musik nicht nur für ihre Zeit, sondern vor allem für und aus sich selbst und meist gegen ihre Zeit spricht, kann man nicht oft genug erwähnen. Vor allem aber, dass sie spricht, verhandelt, erzählt, fragt. Musik entsteht nicht, damit ihrer Epoche retrospektiv ein gutes Zeugnis ausgestellt wird.
In diesem Sinne bringe ich gern Zeitloses und Zukünftiges zum Klingen, sei es durch die Lesart eines Repertoire-Stücks oder die Entdeckung musikalischer Schätze. Natürlich ist es das viel leichtere Unterfangen, ein nahezu vergessenes Werk neu zu entdecken, dessen Behandlung und Betrachtung nicht von Konventionen überwuchert ist.
Sie haben nach dem Abitur Orchesterdirigieren und Chordirgieren studiert und sind Diplom-Konzertdirigent. Wann ist denn der Berufswunsch Dirigent in Ihnen erwacht?
Da gab es Schlüsselerlebnisse: 1992 erlebte ich als Fünfjähriger die letzte Vorstellung der Felsenstein-Inszenierung von Offenbachs „Ritter Blaubart“ in der Komischen Oper Berlin. Mein Großonkel Werner Enders sang in allen 369 Vorstellungen den König Bobèche. Das war (und ist noch heute beim Betrachten der Verfilmung) für mich ein elementares Erlebnis hinsichtlich musikalisch-theatralischer Spannungsbögen: Alles so schlüssig, so zeitlos zeitkritisch.
2002 hörte und sah ich eine Übertragung der Johannespassion unter Simon Rattle. Da faszinierte mich, mit welch feinstem psychologischen Werkzeug, mit welcher Präzision des gestischen und mimischen Ausdrucks die Wucht der Kontraste erzeugt wurde. Das brach zur rechten Zeit über die junge Seele herein. Von da an war klar: Ich muss dirigieren.
Wirft man einen Blick auf Ihre Diskographie, fällt auf: Sie haben vor allem geistliche Werke eingespielt. Haben Sie eine besondere Beziehung zu dieser Musik?
Das hat zwei Gründe: Es ist relativ leicht, Rückschlüsse aus geistlichen Erzählungen auf universelle Probleme zu ziehen. Aus Mendelssohns „Elias“ lässt sich manches Problem auf unsere Zeit übertragen, das Nichtgläubige wie Gläubige betrifft. Das gilt für sein (exzellent unterhaltsames) Singspiel „Die beiden Pädagogen“, das ich mit 22 zu den Mendelssohn-Festtagen dirigiert habe, nicht in gleicher Weise.
Außerdem ist das Oratorium die Gattung, die uns mit der Interpretation eine rein akustische Inszenierung abfordert. Licht, Kostüme und Bewegungen, die uns auf dem Theater helfen, müssen durch rein klangliche Charakterisierungen ersetzt werden. Den Chor (und auch das Orchester) innerhalb eines Werks in verschiedene Rollen schlüpfen zu lassen und klanglich zwischendurch völlig anders „einzukleiden“ ist eine große Herausforderung und kann (nicht nur dem Dirigenten) viel Spaß machen.
Sie sind der künstlerische Leiter der Deutschen Philharmonischen Akademie, mit der Sie in prominenten Konzerthäusern auftreten und arbeiten zudem mit großen Orchestern wie dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien und den Stuttgarter Philharmonikern, um nur einige zu nennen. Zudem wurden Sie mehrmals als Dirigent des Jahres nominiert. Das zeigt, dass Sie ihren eigenen Stil gefunden haben. Gab es in jungen Jahren einen Dirigenten, der für Sie ein großes Vorbild war und der Sie inspiriert hat?
Da gab es mehrere und ganz gegensätzliche. Ich habe im Laufe der Zeit immer mehr Dirigenten zu verstehen und von ihnen zu lernen versucht. Sicher ist all diesen Vorbildern ein hohes Maß an Individualität eigen, die Verknüpfung von Handwerk und einer Freude, Musik zum Sprechen und nicht einfach ins Fließen zu bringen.
Eine besondere Beziehung verbindet Sie zu dem Tenor und Dirigenten Peter Schreier, über den sie auch eine Schrift verfasst haben. Erzählen Sie doch bitte, wie es dazu kam.
Das ist so ein Zauberer…Wenn Musizieren hypnotische Kraft hat, dann in und durch Peters Kunst. Wenn ich seine Mendelssohnlieder höre, dann bin ich ganz jung, es ist Frühling und alles blüht zum ersten Mal. Er ist ein Genie der Vergegenwärtigung, ein Genie gegen die Zeit. Wir kamen zusammen, da ich als Student die Schumannfassung der Johannespassion dirigierte; er hatte sie wenig später programmiert. Im Umlauf war (und ist) nur ein Material und so ergab sich ein Kontakt, der schließlich bis zu seinem Tode anhielt. Ich kannte schon vorher nahezu alle Schütz-, Bach-, Beethoven-, Schubert- und Schumann-Einspielungen von ihm, hielt und halte die von ihm dirigierte Aufnahme der Matthäuspassion für unübertrefflich, war und bin von seiner Interpretationsweise unglaublich fasziniert: Da musiziert einer ohne Tendenz, alles so, als sei es von heute und sei für die Ewigkeit, da sind alle Schleier der Geschichte zerrissen und alle Blockaden der Konvention überwunden.
Ich war in vielen seiner Meisterklassen am Klavier und wir haben gemeinsam eine CD eingespielt; schließlich durfte ich ihn als Dirigenten vertreten bei Schumanns märchenhaftem Oratorium „Der Rose Pilgerfahrt“. Ein bisschen traurig bin ich, dass ich als Dirigent nie etwas so unmittelbar ausdrücken kann wie er als Sänger, aber das Ideal einer beredten Lebendigkeit trage ich hoffentlich weiter.
Haben Sie konkrete Pläne für Ihre Zukunft als Dirigent? Und gegebenenfalls, es gäbe die berühmte gute Fee, die Ihnen einen Wunsch für Ihr Dirigentenleben erfüllen könnte: Wie würde er lauten?
Werden Feen nicht mit drei Wünschen zu uns geschickt? Einsparungen überall. Also:
„Neue Bahnen“ (wie Schumann sie feiert und wie sie im Sinne von Idee und Ideal auch Interpreten beschreiten sollten) mit Laufbahn auf eine sinnerfüllte Weise verbinden, eine Balance aus Entdecken, Musizieren und Nachdenken, weiterhin mit interessierten Musikerinnen und Musikern zusammenarbeiten, gelingende Aufnahmen von unbekannter und bekannter Musik.
Vielleicht darf ich weitere großartige Orchester kennenlernen, vielleicht mal wieder in den Orchestergraben springen, vielleicht etwas Bleibendes schaffen – falls die Fee weiß, wie das geht…
Fabian Enders, vielen Dank für dieses Interview!

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